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Die erste Fußball-WM: Wie das globale Spektakel begann

Wenn die WM 2014 in Brasilien beginnt, kommt der Fußball wirklich heim: Schon die allererste Weltmeisterschaft fand in Südamerika statt. Eine historische Entscheidung, die nicht nur sportliche Gründe hatte

09.04.2014

Als WM-Plakate noch schön aussahen wie bei der ersten Fußball-WM 1930 in Uruguay.

Als WM-Plakate noch schön aussahen wie bei der ersten Fußball-WM 1930 in Uruguay.
Bildquelle: privat

Fußballbegeisterung gehört zu Südamerika wie Rinder zu Argentinien und der Zuckerhut zu Brasilien. Die Ursprünge sind über dem Klischee beinahe in Vergessenheit geraten – die erste Fußballweltmeisterschaft etwa: die fand in Uruguay statt. Der Historiker Prof. Stefan Rinke hat zu dieser ersten WM auf dem Kontinent geforscht und Parallelen zu den heutigen Turnieren entdeckt. Schon damals ging es für das Gastgeberland und die Verbände um weit mehr als nur den Sport.

Nein, eine echte Überraschung war es nicht, als die FIFA 2007 ihre Entscheidung bekanntgab, die Weltmeisterschaft 2014 nach Brasilien zu vergeben. Schließlich war das Land der einzige Bewerber gewesen. Trotzdem wurde der Zuschlag in Brasilien und international gefeiert. Franz Beckenbauer sprach sogar von einer „perfekten Entscheidung“. Und er bemühte die Fußballgeschichte: „Kein Land hat so viele Stars hervorgebracht wie Brasilien.“

Dass Brasilien als fünffacher Weltmeister mit dem Turnier – dem 20. in der Geschichte – an Traditionen anknüpfen will, davon ist der Historiker Stefan Rinke überzeugt. In der Heimat von Fußballlegenden wie Ronaldo, Zico und Pélé gab es 1950 zum letzten Mal eine WM. Am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin hat sich Rinke mit den Ursprüngen des weltweiten Fußball-Enthusiasmus beschäftigt. Dass Südamerika wesentlichen Anteil daran hat, klingt vielleicht zunächst nicht sehr überraschend.

Und doch ist das erste große Event der Fußballgeschichte weitaus weniger bekannt als viele andere, die folgen sollten: 1930 kämpften in Uruguay zum ersten Mal Fußballmannschaften mehrerer Länder um den WM-Titel. Rinkes Forschung zu den Umständen dieser ersten WM ist ein Teilprojekt der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschergruppe 955 „Akteure der kulturellen Globalisierung“. Neben dem Fußball widmet sich Rinke beispielsweise auch den Anfängen der Luftfahrt in Lateinamerika. Mehr als hundert Jahre ist es her, dass die Fußball- Euphorie in Südamerika ihren Anfang nahm: Es begann um die Jahrhundertwende, sagt Rinke. Fußball galt als modern, war er doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Mit See- und Handelsleuten, aber vor allem mit Einwanderern aus Europa, gelangte er auf den Kontinent.

Ein Sport für die Massen war das Spiel mit dem runden Leder zuvor nicht – sondern eine exklusive Freizeitbeschäftigung für Sprösslinge reicher Familien und der besseren Gesellschaft. Doch die Attraktivität des Sportes, für den es weder besonderer Ausrüstung noch körperlicher Voraussetzungen bedarf, blieb nicht lange ein exklusives Geheimnis. „Trotz der elitären Ursprünge bei den englischen Clubs der Gentlemen galt Fußball dann lange als typisch für die Straßen der Arbeiterviertel“, sagt der Wissenschaftler. Ein Imagewandel mit Folgen: Je mehr sich Fußball dort als Freizeitbeschäftigung verbreitete, desto weniger interessierten sich die Eliten dafür.

1912 wird Fußball eine olympische Disziplin

Eine neue Bedeutung erfuhr der Fußball, als er 1912 olympisch wurde. Es kam zu den ersten großen internationalen Begegnungen. „Schon im frühen 20. Jahrhundert waren die lateinamerikanischen Mannschaften so gut, dass sie auch nach Europa geschickt wurden“, sagt Rinke. Die Massen strömten in die Stadien, als das Team aus Uruguay die Turniere 1924 in Paris und 1928 in Amsterdam für sich entschied. „Man hat dabei bemerkt, dass sich ein Fußball-Turnier finanziell tragen könnte“, erläutert Rinke.

An Vorbildern für internationale Turniere mangelte es jedoch: Weltmeisterschaften in nur einer Sportart gab es bis zu dem Zeitpunkt nicht. Die Idee einer ersten Fußball-Weltmeisterschaft kam 1926 von der FIFA. Der Weltfußballverband bestand bereits seit 1904 und hatte den Anspruch, Verbände aus der ganzen Welt zu vereinen. Die Verbände der einzelnen lateinamerikanischen Nationen stießen erst nach und nach zu den europäischen hinzu, berichtet Rinke.

Dabei waren es gerade die südamerikanischen Teams, die in den 1920er Jahren das Geschehen auf dem Platz prägten. „Diese Erfolge waren ein Grund dafür, dass eine südamerikanische Bewerbung um das Ausrichten der ersten WM erfolgversprechend war“, sagt der Historiker. Gleichzeitig ging es der FIFA aber auch darum, den 1916 gegründeten südamerikanischen Verband einzubinden, die Confederação Sul-Americana de Futebol (CONMEBOL).

Schon bei der ersten WM drehte sich alles um Geld

Neben dem Sport an sich ging es beim Fußball aber auch schon damals ums Geld. Die Frage nach den Kosten für die Großveranstaltung spielte deshalb auch bei der ersten Weltmeisterschaft eine entscheidende Rolle. „Die Investition in eine WM, in ein Massenvergnügen, war damals keineswegs selbstverständlich“, sagt Rinke. Auch wenn die Breitenwirkung des Sportes bereits auf beiden Kontinenten spürbar gewesen sei, habe es Diskussionen um mögliche Austragungsorte und um finanzielle Risiken gegeben, gerade in Anbetracht der kurz zuvor ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise.

Warum die Entscheidung 1929 zugunsten Uruguays fiel, dafür gab es mehr als nur einen Grund. Nach Rin kes Erkenntnissen war – neben den sportlichen Erfolgen der Vorjahre – die 100-jährige Unabhängigkeit des Landes im geplanten Austragungsjahr ein wichtiges Argument. „Zudem kündigte die Regierung an, die Veranstaltung zu sponsern“, sagt Rinke.

Der Staat kam etwa für die Schiffsüberfahrt und Unterbringung der teilnehmenden Mannschaften auf. Allerdings hatte man sich vorher nicht überlegt, wie groß die Teams sein durften: „Es gab böses Blut, weil einige Nationen neben Spielern und Trainern gerne noch eine zweite Mannschaft und Köche mitgebracht hätten.“

Ein weiteres Argument für Uruguay war dessen politisch wie wirtschaftlich solide Basis: „Das Land profitierte vom Export, vor allem von Fleisch“, sagt Rinke. Dass man dennoch – wie viele andere Nationen – auch nicht von der Weltwirtschaftskrise verschont bleiben würde, war der uruguayischen Regierung bewusst. Auf Dauer würde man mit Viehexporten international nicht konkurrenzfähig sein, das ahnten die Machthaber. Sie nahmen die Krise mit zum Anlass, das Turnier nach Montevideo zu holen.

„Man wollte sich als hoch entwickeltes und ebenbürtiges Land auf einer Weltbühne präsentieren – mit dem modernen Gedanken, Touristen anzulocken“, sagt Rinke. Das schließt der Historiker aus damaligen Parlamentsprotokollen, Zeitungen und Zeitschriften sowie Memoiren. Wie weitsichtig zu dieser Zeit im uruguayischen Parlament argumentiert wurde, habe ihn erstaunt, bekennt Rinke. „Die Regierung sah den Tourismus bereits als Trend der Zukunft.“ Man hoffte also, dass sich die großen Investitionen auszahlen würden.

Als dann endlich die Entscheidung für Uruguay gefallen war, blieb dem Land nur ein Jahr Vorbereitungszeit. Nicht eben viel, in Anbetracht der vielen Aufgaben eines Gastgeberlandes. „Es galt damals wie heute, neue Stadien zu errichten – wenn auch in kleinerem Maßstab“, sagt Rinke. In Montevideo entstand in Rekordzeit das Estadio Centenario, das heute noch mit seinen Art-déco-Elementen erhalten ist. „Es war nicht genau zum Tag der Eröffnung fertig“, berichtet Rinke.

Immerhin: Das Finale hätten dort letztlich wohl an die 100.000 Zuschauer verfolgt, sicher auf engstem Raum. Ausgelegt war das Stadion nur für 60.000 Menschen. Vor allem Spiele der heimischen Mannschaft waren gut besucht. Doch nicht immer blieben die Fans friedlich. Die Rivalität mit dem Nachbarn Argentinien etwa hatte die Gemüter bei den „Lokalderbys“ erhitzt: „Es kam zu heftigsten Auseinandersetzungen zwischen den Fangruppen, die die Polizei nur schwer in den Griff bekam“, sagt Rinke. Andere Partien waren dagegen kein Publikumsmagnet: Das Auftaktspiel zwischen Frankreich und Mexiko sollen nur 500 Zuschauer besucht haben.

Keine der vertretenen europäischen Mannschaften spielte zu der Zeit ganz vorne mit. Mit Rumänien, Frankreich, Belgien, und Jugoslawien waren nur vier Teams vertreten. Hinzu kamen acht südamerikanische Teams und die USA: Nicht einmal eine gerade Anzahl kam zustande, am Ende traten 13 Mannschaften an. Eine Qualifikation war dementsprechend nicht nötig.

Arroganz: Deutschland und Österreich reisen nicht nach Uruguay

Deutschland und Österreich reisten gar nicht erst über den Atlantik. Zum einen wohl aus einer gewissen Arroganz heraus, wie Rinke erläutert: „Europa hielt sich für die Wiege des Fußballs, Uruguay lag demgegenüber abseits.“ Dessen Olympiasiege habe man zunächst für „Ausrutscher“ gehalten. Doch auch finanziell war die Teilnahme nicht zu stemmen. Die Spieler hätten während ihrer wochenlangen Abwesenheit Lohnausfälle in ihren angestammten Berufen in Kauf nehmen müssen. Und die ersten professionellen Starspieler jener Zeit wurden von ihren Vereinen für lukrative Spiele innerhalb Europas beansprucht.

Am Ende des Turniers entschied Uruguay die WM für sich. Erfolg bescherte den Südamerikanern vor allem ihr technisch versiertes Spiel, dem die europäischen Mannschaften anfänglich nichts entgegenzusetzen hatten. Sie setzten vielmehr auf Kraft. „Die Ergebnisse waren damals schon knapp, es gab keine völlige Dominanz – aber in den entscheidenden Situationen waren die Lateinamerikaner unbestritten im Vorteil“, erläutert Stefan Rinke.

Besonders ein Mann zog in jenen Jahren die Blicke auf sich: Der Afro-Uruguayer José Leandro Andrade, der als Star der 1920er-Jahre in die Geschichtsbücher einging. „In den meisten anderen Mannschaften, etwa der brasilianischen, waren damals keine Dunkelhäutigen vertreten. Er war ein Exot“, sagt Rinke. Die meisten anderen Nationen hätten sich nur mit weißen Spielern präsentieren wollen. „Uruguay war in dieser Hinsicht pragmatischer, ein Problem mit Rassismus hatte die Gesellschaft aber natürlich auch.“

Andrade, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, nannte man „schwarze Perle“. Als Rechter Läufer, wie man die Position des Mittelfeldregisseurs damals bezeichnete, zog er die Fäden für Uruguay. Und er wurde zu einem der ersten Fußballstars. „Wie man es von heutigen Profis kennt, lebte er seinen Star-Status offen aus, etwa indem er besondere Ansprüche innerhalb der Mannschaft stellte“, sagt Rinke. Auch wenn Andrade 1930 nicht mehr so sehr dominierte wie in den Jahren zuvor, blieb er ein Liebling der Massen.

Genau dieser Masse verdankte die erste Weltmeisterschaft ihre Bedeutung: „Die Städte waren enorm gewachsen, Arbeitszeiten wurden eingegrenzt. Erstmals hatten die Menschen Freizeit, die es zu füllen galt“, erläutert Stefan Rinke. Das Interesse wussten auch die aufkommenden Medien zu nutzen, die in der WM früh eine Geldquelle sahen. „Live-Übertragungen im Radio und Filmausschnitte in der Wochenschau im Kino zählten zu den relativ neuen Möglichkeiten“, sagt Rinke. Auch eine Sportpresse hatte sich entwickelt, die sich finanziell selbst trug.

In Uruguay wird der Finalsieg tagelang gefeiert

Aus Sicht des Veranstalters fiel das internationale Presseecho der ersten WM allerdings nicht unbedingt positiv aus: „Vor allem in Nationen, die selbst keine Teams entsandt hatten, tat man das Turnier als unbedeutend ab“, sagt Rinke. Im eigenen Land habe sich der Aufwand aber bezahlt gemacht – zumindest ideell, bilanziert er. Die Siegesfeier soll mehrere Tage und Nächte gedauert haben. Der 31. Juli, der Tag nach dem Turnierende, wurde Nationalfeiertag. „Der Enthusiasmus, den die WM mit sich brachte, wirkte auch gesellschaftlich integrativ.“

Zudem war die Sportbegeisterung politisch gern gesehen: Schließlich dienten die Spieler mit ihrer körperlichen Fitness als Vorbild für die Bevölkerung. Körperliche Ertüchtigung galt als gesundheitsfördernd und damit als hilfreich für die Zukunft der Nation. Diesen Effekt von Großturnieren sollten sich später die totalitären Regimes zunutze machen: „Die darauffolgende WM in Italien war für Mussolini ein gefundenes Fressen – fast ein Vorläufer von Hitlers Olympiade“, sagt Stefan Rinke. Um dem Volk Freude zu bereiten, soll der „Duce“ nicht nur Schiedsrichter bestochen haben. Auch gute argentinische Spieler mit italienischen Wurzeln bürgerte man kurzerhand ein. „Die Lateinamerikaner fanden das skandalös“, sagt Rinke. Die dortigen Verbände revanchierten sich, indem sie der WM 1934 größtenteils fernblieben – eine „Retourkutsche“, meint Rinke.

So blieb das Turnier in Italien europäisch geprägt. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis sich diese regionalen Spaltungen auflösten und auch Teams aus Asien und Afrika teilnahmen. Selbst die für Deutschland so präsenten Turniere mit den Finalspielen im mittlerweile abgerissenen Berner Wankdorf-Stadion und 1966 im Londoner Wembley-Stadion hätten weltweit noch nicht den Stellenwert von heute gehabt. Der Wandel setzte erst langsam ein, als die ersten Live-Aufnahmen via Satellit auf den heimischen Bildschirmen landeten. „Zu einem wirklich globalen Ereignis wurden die Weltmeisterschaften erst in den 1980er Jahren“, sagt Rinke.

Der FIFA haften massive Korruptionsvorwürfe an

Für heutige Veranstalter und Funktionäre würde es sich lohnen, ab und zu an die Zeit vor dem globalen Fußballzirkus denken – etwa bei den nächsten und übernächsten WM-Turnieren der FIFA, die in Russland und Katar stattfinden sollen. Zumindest formal hatte es dabei zwar Konkurrenten um die Austragung gegeben. Doch über den 21. und 22. Weltmeisterschaften hängt der Schatten massiver Korruptionsvorwürfe: FIFA-Mitglieder sollen Schmiergelder in Millionenhöhe angenommen haben. In dieser Hinsicht waren die ersten Spiele in Lateinamerika vorbildlich, sagt der Historiker Stefan Rinke. Nach seinen Ergebnissen finden sich dazu keine Parallelen zwischen damals und heute.

 

Der Wissenschaftler

Univ.-Prof. Dr. Stefan Rinke

Bei der Frage, warum die erste Fußball-WM in Uruguay stattfand, hätte es kaum einen geeigneteren Experten geben können als Stefan Rinke: Als Professor für die Geschichte Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Friedrich-Meinecke- Institut der Freien Universität untersuchte er im Rahmen der DFG-Forschergruppe 955, „Akteure der kulturellen Globalisierung“ in deren erster Forschungsphase das Thema „Fußballenthusiasmus: Die Anfänge des Fußballs in Lateinamerika als transnationales Phänomen – Argentinien, Brasilien und Uruguay im Vergleich, 1867 – 1930“. Derzeit ist er Einstein Research Fellow.

Sein Tipp für die WM in Brasilien: Chile gewinnt das Finale gegen Brasilien mit 1:0.

Kontakt:

Freie Universität Berlin

Lateinamerika-Institut

E-Mail: rinke@zedat.fu-berlin.de