Auf den Straßen der Großstadt
Passanten und Obdachlose, Straßenverkäufer, -künstler, und -prediger: Die Menschen in der Megacity São Paulo beschäftigen die brasilianische Stadtsoziologin Fraya Frehse seit Jahren.
10.04.2014
Passanten und Obdachlose, Straßenverkäufer, -künstler, und -prediger: Die Menschen in der Megacity São Paulo beschäftigen die brasilianische Stadtsoziologin Fraya Frehse.
Bildquelle: Fraya Frehse
São Paulo ist eine Stadt der Superlative: die zehntgrößte Stadt der Welt, der zweitgrößte urbane Ballungsraum Lateinamerikas, wachsende Megacity und das kulturelle wie wirtschaftliche Zentrum Brasiliens. Fraya Frehse kennt São Paulo, seine Straßen und Plätze sehr gut. Die Stadt ist nicht nur der Wohnort, sondern auch der Forschungsgegenstand der Soziologie-Professorin der Universität São Paulo. Im diesem Sommersemester hat Frehse den Gastlehrstuhl „Sérgio Buarque de Holanda“ am Forschungszentrum Brasilien des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin inne.
Im Fokus des 2010 gegründeten interdisziplinären Zentrums stehen Projekte und Forschungen mit kultur- und sozialwissenschaftlicher Ausrichtung, deren gemeinsame Perspektive „Brasilien im Weltkontext“ ist. Der 2012 eingerichtete Gastlehrstuhl wird mit renommierten brasilianischen Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen besetzt und dient der Förderung und Erweiterung des wissenschaftlichen Austauschs zwischen der Freien Universität und Institutionen in Brasilien. Er wird vom Deutschen Akademischen Auslandsdienst (DAAD) sowie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Lateinamerikanische Konzepte sollen empirische Forschungsdaten erklären
Von April bis August 2014 arbeitet die an der Universität São Paulo ausgebildete Ethnologin in Berlin. Es ist bereits ihr zweiter längerer Berlin-Aufenthalt: 2010 erforschte Fraya Frehse als Alexander-von-Humboldt- Stipendiatin an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin die deutsche Stadt- Soziologie.
Nun kommt die Professorin vor allem, um zu lehren. Insgesamt vier Lehrveranstaltungen wird sie an der Freien Universität anbieten. Das Semester wird sie aber auch zur Literaturforschung nutzen, da sie der Feldforschung hauptsächlich in Brasilien nachgeht. „Zur konzeptionellen Erklärung empirischer Daten wird in der lateinamerikanischen Stadtsoziologie häufig auf europäische und nordamerikanische Theoretisierungen zurückgegriffen.“ In der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Konzepten zielt die Wissenschaftlerin darauf ab, dass vermehrt empirisch und theoretisch in Lateinamerika verwurzelte Konzepte entwickelt werden.
Damit sind solche Konzepte gemeint, die die einheimische sozialräumliche Stadtrealität wie auch die eigene soziologische Tradition kritisch einbeziehen. Wenn Fraya Frehse vor dem Hintergrund ihrer alltagssoziologisch und raumtheoretisch angeleiteten Forschung über die derzeitige Situation in Brasilien nachdenkt, sorgt sie sich: Die Inflation steige und die Qualität der städtischen Infrastruktur nehme in wachsendem Maße ab, Stadtpolitik sei mittlerweile fast exklusiv Wahlkampfpolitik. Der Alltag der Menschen werde in den Städten somit immer schwieriger. Gleichzeitig ist diese Entwicklung für sie interessant, da auf den ersten Blick unvorhergesehene Widersprüche des gegenwärtigen städtischen Phänomens in den brasilianischen Megastädten zum Vorschein kämen.
Für ihre Feldforschung verbringt die Soziologin zwei Nachmittage in der Woche auf den Straßen und Plätzen der Altstadt São Paulos. Etwa auf der Praça da Sé, dem topographisch zentralsten Platz der Stadt. In diesen öffentlichen Räumen führt sie sogenannte teilnehmende Beobachtungen durch und interviewt Menschen, die sich dort tagtäglich aufhalten.
Die Gründe für deren Aufenthalt auf der Straße reichten von der Marginalisierung am formellen Arbeitsmarkt über schwache Bindungen an Institutionen wie Schule und Nachbarschaft bis hin zum Zerfall der Familienstrukturen: „Die Straßen sind ein wahres Forschungslabor, um die historischen Widersprüche des modernen Urbanisierungsprozesses zu erfassen“, sagt Fraya Frehse.
Trotz Armut und Schwierigkeiten: Die Menschen schaffen sich im Alltag ihre Nischen
Die Beobachtungen und Befragungen liefern der Wissenschaftlerin Ergebnisse über die Nutzung der Straßen, auf denen sich, anders als in Europa, die vielfältige sozial und wirtschaftliche Lebhaftigkeit der sogenannten „Nicht-Passanten“ öffentlich zeige. „Es ist soziologisch faszinierend, sich konzeptionell mit der breitgefächerten und – im humanen Sinne – innovativen Art auseinander zu setzen, wie diese Bevölkerung es schafft, trotz Armut und Schwierigkeiten im Alltag Nischen zu entdecken, um nicht nur wirtschaftlich, sondern auch soziokulturell weiterzuleben“, erklärt Frehse.
Dabei stoße sie häufig auf Interaktionsregeln, die vorherrschende soziologische Konzepte infrage stellten. Beispielsweise im Verhältnis zwischen Straßenverkäufern und der Polizei. Konzepte wie „Widerstand“ und „Anonymität“ erklärten eben nicht, wie und ob auf der Straße eine starke polizeiliche Unterdrückung stattfinden könne. Frehse erklärt Widersprüche wie diesen durch eine besondere Art der gegenseitigen „stillschweigenden Solidarität“. „Im alltäglichen Tag-ein- Tag-aus haben beide Seiten dort sehr wohl gelernt, inmitten der Flüchtigkeit des Straßenlebens persönlich – im anthropologisch tiefgründigen Sinne dieses Wortes – miteinander umzugehen.“ Dennoch bestehen für Frehse, wie auch für die von ihr erforschten „Nicht- Passanten“, keine Zweifel, dass während der Weltmeisterschaft der polizeiliche Druck auf den Straßen und Plätzen zunehmen werde.
Hinter dem Namen Osgemeos verbergen sich die Künstler und Zwillingsbrüder Otavio and Gustavo Pandolfo, die auch schon in Berlin Kreuzberg eine Häuserwand verschönerten.
Bildquelle: wikipedia/ Duncan Cumming
Bereits seit über zehn Jahren beschäftigt sich Fraya Frehse mit der Anthropologie und Soziologie sowie ihren Schnittstellen zur Geschichte. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei die Stadtforschung. Im Rahmen ihrer Forschung setzt sich die Soziologie-Professorin auch mit Presse- und Reiseberichten über Städte, Straßenfotografien sowie Straßenkunst auseinander.
Für Letzteres ist São Paulo weltberühmt, insbesondere für seine Graffitis, und die „pichação“, also schriftliche Kennzeichen, mit denen Gangs in einer oft nur für Eingeweihte zu entziffernden, eckigen Schriftart ihr Revier markieren und miteinander kommunizieren. „Es handelt sich um absolut kreative Ausdrucksformen eines Alltags, in dem nicht viel zum Flanieren einlädt“, erklärt Fraya Frehse. Eine Besonderheit der Graffitis in Brasilien sei die ikonographische Vermenschlichung der Motive, die die Soziologin als mitverantwortlich ansieht für deren internationalen Erfolg.
Ein Paradebeispiel seien etwa die Arbeiten von „Osgemeos“, den „Zwillingen“. Die beiden Brüder und Künstler konnten ihre Arbeiten schon in der Londoner Tate Gallery präsentieren, in Berlin ziert eines ihrer Werke ein Haus in Kreuzberg. Die Vielfalt der ikonographischen Graffitis sei untrennbar mit der Bedeutung von Bildern in Brasilien verbunden, sagt Fraya Frehse: „Die brasilianische Gesellschaft ist sehr visuell, und dies sicher nicht nur wegen des weit verbreiteten Analphabetismus‘“.
In Deutschland sei die Straßenkunst dagegen eher verschriftlicht, wobei in den vergangenen Jahren eine starke Beeinflussung durch brasilianische Künstler erkennbar sei. Zurzeit ist Fraya Frehse besonders wegen der öffentlichen Stadtpolitik in Brasiliens Großstädten besorgt. „Sie wird immer kurzfristiger.“ Das führe dazu, dass sehr wenig Geld in die mittel- oder gar langfristige Infrastrukturplanung fließe. Hinzu kämen die Milliarden- Ausgaben für die Weltmeisterschaft, die sich fast ausschließlich auf den Bau teurer Stadien beschränkten. All dies belaste nicht nur die ärmere Bevölkerung, deren Wohnmöglichkeiten in der Umgebung der Stadien Immobilienprojekten weichen müssten, sondern auch die Mittelschicht.
„Das ist ein Grund dafür, warum die Straßenproteste Juni 2013 die ersten wirklichen Massenproteste seit mehr als 20 Jahren waren“, sagt die Soziologin. Viele Brasilianer seien zwar Opfer der Vorbereitungen auf die Weltmeisterschaft, doch ertrügen sie ihre Situation durch ihren unerschütterlich scheinenden Galgenhumor. Ein vielgeäußerter Satz in Brasilien ist zurzeit: „Stell Dir all dies inmitten der WM vor.“ Fraya Frehse wird dann in Berlin sein und die brasilianische Stadtlandschaft aus der Ferne beobachten.
Die Wissenschaflterin
Prof. Dr. Fraya Frehse
Fraya Frehse ist seit 2006 Professorin für Soziologie an der Universität São Paulo. Dort studierte sie Soziologie, Anthropologie und Politikwissenschaft. Nach einem Master in Sozialanthropologie und einen Gaststudienaufenthalt an der Universität Oxford promovierte sie 2005 am gleichen Fachbereich ihrer Heimatuniversität. 2010 forschte sie als Stipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Sommersemester 2014 lehrt sie als „Sérgio Buarque de Holanda“-Gastprofessorin an der Freien Universität. Die Professur wurde benannt nach einem berühmten brasilianischen Schriftsteller und Historiker.
Ihr Tipp: „Da, wie man es in Brasilien zu sagen pflegt, Fußball ein Wunderkästchen ist, und ich Brasilien liebe, hoffe ich innigst, dass Brasilien Weltmeister wird.“
Kontakt:
Freie Universität Berlin
Lateinamerika-Institut
Forschungszentrum Brasilien
E-Mail: fraya@usp.br