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Das Spiel mit der Krise

Krisen durchzuspielen hat nicht nur theoretischen, sondern praktischen Nutzen. Das zeigt ein Politikwissenschaftler der Freien Universität in einem Projekt mit dem Deutschen Theater Berlin und der Schauspielschule Ernst Busch

10.04.2014

Professor Sven Chojnacki entwickelt schon seit 2011 zusammen mit seinen Studierenden das „Krisenspiel“, das nun als „Spiel mit der Krise“ in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater öffentlich und spielerisch weitergedacht wird.

Professor Sven Chojnacki entwickelt schon seit 2011 zusammen mit seinen Studierenden das „Krisenspiel“, das nun als „Spiel mit der Krise“ in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater öffentlich und spielerisch weitergedacht wird.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Wir schreiben das Jahr 2044. Venedig ist längst evakuiert und untergegangen in den Fluten, so wie viele andere Hafenstädte in Europa. In den Mittelmeerländern herrscht Dürre, und die Länder im Norden haben die Grenzen gegen Hungerflüchtlinge aus Afrika längst dichtgemacht. Hunderttausende sterben jährlich an den Folgen des Klimawandels. So beschreibt der kanadische Journalist Gwyne Dyer die apokalyptischen Zustände, mit denen die Welt in nicht allzu langer Zeit rechnen müsse.

Auch wenn Horrorszenarien wie diese übertrieben erscheinen mögen – dass der Klimawandel voranschreitet und mit ihm Konfliktpotenziale zunehmen, ist längst nicht mehr von der Hand zu weisen. Ob es deswegen tatsächlich zu globalen Klimakriegen kommen wird und welche Faktoren eine solche Krise ent- oder verschärfen könnten, ist umstritten.

Professor Sven Chojnacki und die Dramaturgin Malin Nagel des Deutschen Theaters Berlin haben ein Planspiel entwickelt, in dem diese These auf die Probe gestellt und kritisch hinterfragt wird. Der Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und empirische Friedens- und Konfliktforschung organisiert bereits seit 15 Jahren das „Krisenspiel“ an der Freien Universität.

„Solche Planspiele verbessern das Verständnis der Studierenden für die Interaktions- Dynamik komplexer Entscheidungssituationen sowie den praktischen Umgang mit wissenschaftlichen Theorien“, sagt er. Diesen Ansatz fand auch das Deutsche Theater reizvoll: Als die Dramaturgin Malin Nagel im vergangenen Jahr für eine Veranstaltungsreihe zu Demokratie und Krieg mit Sven Chojnacki Kontakt aufnahm, war sie vom Engagement des Wissenschaftlers begeistert.

So entstand die Idee, gemeinsam ein „Krisenspiel“ am Ende einer weiteren Reihe zu Demokratie und Krieg im Deutschen Theater zu organisieren. Neben Wissenschaftlern und Studierenden der Freien Universität nehmen daran auch angehende Dramaturgen teil.

Interview mit Maike Knirsch: Die angehende Schauspielstudentin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ spielte bei Master of Desaster – Das Spiel mit der Krise die Präsidentin des fiktiven Landes „Ypsilon“.

Interview mit Maike Knirsch: Die angehende Schauspielstudentin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ spielte bei Master of Desaster – Das Spiel mit der Krise die Präsidentin des fiktiven Landes „Ypsilon“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Malin Nagel stellte den Kontakt zu Studierenden des Dramaturgie- Masterstudiengangs der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch her, in dem sie als Dozentin tätig ist. Inhaltlich einigten sich die Initiatoren darauf, mit dem Projekt den Einfluss des globalen Klimawandels auf lokale Konflikte zu thematisieren.

„Das passte gut, da das ein aktueller Forschungsschwerpunkt von mir ist“, sagt Chojnacki. Nagel und er haben für ihre Form des Planspiels drei verschiedene Krisen-Szenarien dafür entworfen, wie sich der fortschreitende Klimawandel auf die Welt auswirken könnte.

Anlass zu Optimismus gibt keines von ihnen: Im ersten Szenario wird verdeutlicht, wie ineffizient lokale Institutionen betroffener Gebiete mit den Folgen des Klimawandels und seinen krisenhaften Begleiterscheinungen umgehen. Das zweite beschreibt die transnationale Ebene. Etwa, wie lokale Umweltveränderungen Ernährungskrisen beschleunigen, Fluchtbewegungen anstoßen und so regionalen Eskalationsdynamiken Vorschub leisten.

Das dritte Szenario bringt gleich die ganze Welt auf die Bühne: Zivilisten, Hungerflüchtlinge, Nationen, das Militär und Rebellengruppen. Dort stellt sich dann die Frage: Was tun die weniger betroffenen Industrienationen? Schotten sie sich ab? Werden sie ihre Außengrenzen verschließen und mit Gewalt verteidigen?

Alle drei Szenarien standen bei der Auftaktveranstaltung des Projektes „Master of Desaster – Das Spiel mit der Krise“ den Teilnehmern und Teilnehmerinnen zur Auswahl. Letzten Endes entschieden sie sich für die globalisierte Sicht auf die Krise. „Das ist vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen nicht überraschend, weil es unserer Wahrnehmung politischer Probleme so nahe kommt“, sagt Chojnacki zur Erläuterung.

Malin Nagel, Dramaturgin am Deutschen Theater, entwickelte zusammen mit Sven Chojnacki die Idee eines „Krisenspiels“.

Malin Nagel, Dramaturgin am Deutschen Theater, entwickelte zusammen mit Sven Chojnacki die Idee eines „Krisenspiels“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Für das Spiel wurden die Teilnehmenden des Planspiels zunächst auf vier Gruppen verteilt, deren Rollen sie für den Zeitraum des Planspiels spielen werden. „Wir haben die Zivilbevölkerung – die Flüchtenden, wir haben nationale Regierungen, deren Bevölkerung flüchtet, wir haben im transnationalen Raum Rebellengruppen, die bestimmte Opportunitäten wahrnehmen und für sich Handlungsstrategien entwickeln, und wir haben diverse internationale Akteure“, sagt Chojnacki.

Die Regieanweisung für die Teilnehmer in den nächsten beiden Veranstaltungen: Die ihnen zugeteilten Rollen mit Leben füllen und so etwas wie eine Gruppenidentität gewinnen. Die Grundlage für die Identitätsbildung, erklärt Chojnacki, bilden „ganz uni-typisch“ Reader, die speziell zur Vorbereitung angefertigt wurden. „Die Texte bieten aber nicht viel mehr als erste Orientierungspunkte, die Teilnehmenden selbst müssen die Rollen dann mit Leben füllen, beziehungsweise Ideen zum politischen Handeln.“

Die Teilnehmer sollen zum Beispiel für sich entscheiden, ob es sinnvoll ist, weitere Einzelakteure innerhalb der Gruppen zu bilden. Das hängt auch davon ab, in welche Richtung sich das Szenario entwickelt und welche Zuspitzung Sven Chojnacki und Malin Nagel geplant haben. So wäre es sinnvoll, Frankreich als einzelnen Akteur innerhalb der Gruppe der internationalen Gemeinschaft aufzunehmen, sollte das Krisenland eine seiner ehemaligen Kolonien sein.

Die spezielle Konstellation der Krise soll zugunsten der für April 2014 geplanten Inszenierung noch offen bleiben, damit die Gruppen – ähnlich dem Improvisations- Theater und im Sinne politischer Krisen – sich ganz neu und flexibel auf eine vorher unbekannten Situation einstellen müssen. „Was wir nicht wollen ist, dass sich jetzt schon eine Art Drehbuch herausbildet, nach dem die Akteure dann vorgehen würden. Wir brauchen vielmehr einen Trigger, der die Entscheidungs- und Handlungssituationen in Gang bringt“, sagt Chojnacki. Bei den nächsten Terminen haben Rebellen, Diplomaten, Zivilisten und Politiker dann die Gelegenheit, ihre Handlungsoptionen im Austausch mit Experten abzuwägen. Dabei sollen Ideen für die Inszenierung der Krisensituation gesammelt werden und der Input der Experten zur Ausweitung der eigenen Handlungsoptionen genutzt werden – ein erster Abgleich mit der Realität. „Der Ort ‚Theater‘“, räumt Chojnacki ein, „ist dafür zunächst noch sekundär.“ Die Situation werde eher der eines Seminars gleichkommen, wenn auch unter dem Vorzeichen, dass das hier gesammelte Wissen schon in Kürze – zumindest hypothetisch – über Leben und Tod entscheiden könnte.

Frederik Worms studiert im vierten Semester Politik an der Freien Universität. Er hat das Spiel mit der Krise mit organisiert.

Frederik Worms studiert im vierten Semester Politik an der Freien Universität. Er hat das Spiel mit der Krise mit organisiert.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Erst beim tatsächlichen „Spiel mit der Krise“ Ende April, wenn die Gruppen durch einen Einspielfilm mit der ihnen bislang unbekannten Krisensituation konfrontiert werden, soll die Veranstaltung in szenischer Form ablaufen. Dazu werden die Teilnehmenden sogenannte „Handlungszettel“ an Chojnacki und Nagel geben, die diese ihrerseits auf Plausibilität prüfen und mit weiteren Empfehlungen bezie-hungsweise Regieanweisungen zurück ins Spiel geben.

„Bis dahin“, hofft Chojnacki, „werden die Gruppen sich hoffentlich so gut in ihre Rolle hineinversetzt haben, dass eine gewissen Empathie besteht und ihr Handeln dem wirklicher Akteure nahe kommen wird.“ Es gebe beispielsweise auch inoffizielle Optionen, erläutert Chojnacki, „wie das in der Politik so üblich ist: Da bestehen die offiziellen Verlautbarungen, aber auch die verdeckten Akteure und Strategien stehen im Hintergrund. Diese werden bei uns erst zum Tragen kommen, wenn wir mit dem ‚Spiel mit der Krise‘ anfangen.“

Die Krise, sagt Chojnacki, sei ja schließlich immer etwas, was Akteure unter plötzlichen Zeit- und Handlungsdruck setze. Gerade das schätzt Chojnacki an dieser Art des politikwissenschaftlichen Planspiels: Die Studierenden geraten in die Situation, nicht nur mit theoretischen Perspektiven konfrontiert zu sein, sondern auch mit dem Druck, dem sich politische Akteure in Krisensituationen ausgesetzt sehen. Am deutlichsten werde der Nutzen im Umgang der Studierenden mit den von ihnen bevorzugten wissenschaftlichen Theorien: Dem Sozialkonstruktivismus oder den postkolonialen Theorien zum Beispiel. „Das Interessante ist, dass den Studierenden innerhalb des Krisenspiels bewusst wird, inwieweit rationalistische und ökonomische Kalküle und Strategien in zugespitzten Handlungssituationen dominieren können“, sagt Chojnacki.

Diese Theorien dürften daher nicht von vorneherein verworfen werden, sondern hätten gerade in solch speziellen Konstellationen eine große Erklärungskraft. In dem Maße, in dem Studierende das selbst erführen, gewännen sie im Endeffekt einen anderen Umgang mit wissenschaftlichen theoretischen Perspektiven. „Ich möchte zur kritischen Reflexion anregen: Welche Art von Theorie und Erklärung ist für welche Konstellation angemessen?“

Sven Chojnacki und Malin Nagel sehen ihr Projekt in einer Linie mit dem politischen Theater Bertolt Brechts und Frank Castorfs: Die Kooperation zwischen Universität und Theater sei eine gute Möglichkeit, den populärwissenschaftlichen Diskurs, demzufolge Klimawandel gleichbedeutend ist mit Krieg, gegenüber einer größeren Öffentlichkeit zu hinterfragen und in ein neues Licht zu stellen. Möglich sei es auch, szenische Antworten auf politische Problemstellungen zu entwickeln. Chojnacki ist optimistisch, was den Ausgang des Planspiels angeht. Auch wenn ein Happy End unwahrscheinlich sei: „Wir lassen uns selbst überraschen – und die Zuschauer auch!“

Termine

Die nächsten beiden Termine finden statt am 25. April 2014 um 20.00 Uhr (Teil 4, die Krisensitzung) und am 26. April um 14.00, 16.30, 18.30 Uhr (Das Spiel mit der Krise).
Spielort ist die BOX im Gebäude des Deutschen Theaters Berlin. www.deutschestheater.de/spielplan/extras/master_of_desaster


Der Wissenschaftler


Univ.-Prof. Dr. Sven Chojnacki

Sven Chojnacki ist seit März 2009 Professor für „Vergleichende Politikwissenschaft und empirische Friedens- und Konfliktforschung“ und Leiter des Arbeitsbereichs Friedens- und Konfliktforschung am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. Das Krisenspiel entwickelt er dort schon seit 2011 zusammen mit seinen Studierenden, das aber nun in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater öffentlich und spielerisch weitergedacht wird. Unter anderem ist Sven Chojnacki auch Projektleiter des Teilprojekts Gewaltkontrolle in Bürgerkriegsräumen (C2) im Sonderforschungsbereich 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens?“

Sein Tipp zur Fußball-WM: „Es wird eine Überraschung geben: Kolumbien holt den Titel.“

Kontakt Freie Universität Berlin

Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft

Arbeitsschwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung

E-Mail: friedensforschung@fu-berlin.de