Der Fuß, der Ball, das Spiel
Ein Essay zur Poetik des Fußballs
10.04.2014
Fußball ist das einzige weit verbreitete Spiel, das den Einsatz der Hände verbietet. Die Füße müssen hier das leisten, was man sonst mit den Händen tut.
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Fußball entstand als ein Protest gegen die gelehrte Kultur; mit seinem Verbot, die Hand einzusetzen, setzt er die Spieler dem Zufall aus, den sie mit der Geschicklichkiet ihrer Füße zu beherrschen suchen. Eine sportphilosophische Annäherung von Gunter Gebauer
Man beginnt, die Faszination des Fußballs zu verstehen, wenn man sich klar macht, womit man nicht spielt. Man spielt mit dem ganzen Körper abzüglich seiner geschicktesten Glieder. Fußball ist das einzige weit verbreitete Spiel, das den Einsatz der Hände verbietet. Die Füße müssen hier das leisten, was man sonst mit den Händen tut. Sie sind jedoch nicht einfach ein Handersatz; sie können vieles nicht, was die Hände können: Sie können nicht greifen, nicht fangen, nicht festhalten – sie können den Ball nicht besitzen wie die Hände. Das heißt aber auch, dass der Ball mehr Freiheiten und der Gegner mehr Chancen hat, ihn für sich zu gewinnen als im Handball oder American Football. In einem Spiel sind Besitzgesten ohne Grazie; im Football wird das Spielgerät an den Körper gepresst, im Handball mit den Fingern umkrallt.
Im Fußball ist es ungeheuer schwer, den Ball für sich zu behalten. Man muss ihn mit einem großen Können gefügig machen. Große Spieler sind fähig, die Komplizenschaft des Balles zu gewinnen, gleichsam ein Einverständnis mit ihm herzustellen. Dies geschieht manchmal durch ein Streicheln, durch schmeichelnde Bewegungen; aber dabei bleibt es nicht – noch die sanfteste Berührung wird mit einem harten Schuss fortgesetzt. Fußballerische Zärtlichkeit endet in einem Akt der Gewalt: Ein Tor ist immer eine brutale Verletzung, ein Eindringen in einen Raum, der um jeden Preis zu schützen ist. Gewalt ist im Fußball jedoch eine zweischneidige Sache. Bei einem Gewaltschuss sind die Chancen, dass er gelingt, eher gering; er trifft nur selten sein Ziel.
Die Hand schafft Distanz, der Fuß schafft Nähe. Fußball ist ein Spiel der Nähe, des direkten Kontakts zwischen Menschen und Dingen; er besitzt eine ungeheure Direktheit. Was Distanz schafft, ist verboten, wie die Hände – oder gehört nicht ins Spiel, wie die Sprache. Sie hat beim Fußball nichts zu sagen, obwohl – oder gerade weil – sie weitaus besser artikulieren und (symbolisch) festhalten kann als die Hand. Die Sprache setzt die Leistungen der Hand auf höherer Ebene und mit viel weitreichenderen Konsequenzen fort, indem sie die Dinge durch Zeichen repräsentiert. Fußball ist das Gegenteil einer Welt aus Zeichen; hier gibt es nur konkrete Dinge, die nur sie selber sind; sie stehen nicht für etwas anderes. Fußball ist ein Spiel, das der Sprache nicht traut. Die Sprache entfernt uns von der Welt; ihre Beschreibungen sind, wie Nietzsche sagt, „ein Heer erstarrter Metaphern“, die uns die Dinge verbergen
Fußball ist ein stummer Protest gegen die gelehrte Kultur, die ihr ganzes Gebäude auf Begriffen, Differenzierungen und Zeichen aufbaut. Sein historischer Ursprung im 19. Jahrhundert liegt in einem Revoltieren von Schülern einer englischen Public School, von Rugby, gegen die Belehrungskultur ihrer Lehrer. Die Sprache steht für alles, was ein Ersatz für die Wirklichkeit ist. Dadurch, dass der Fußball die direkte Dingberührung favorisiert, stellt er sich in misstrauische Opposition gegen die Sprache. Er entfernt ihre symbolische Schicht aus seiner Handlungswelt und durchzieht diese mit ihren eigenen primitiven Zeichen.
Auch der Schiedsrichter spricht kaum; er gibt Signale in rudimentärster Form, mit der Trillerpfeife, der Inbegriff einer sprachlosen, unartikulierten Subkultur. Auf die Trillerpfeife konzentriert sich die Verachtung der Literaten, der Spezialisten der Welt aus Worten, den Stellvertretern durch Zeichen. Aber in dem Maße, wie auch für sie die Worte brüchig werden und ihre Beziehungen zur Welt verlieren, wird die direkte Berührung der Dinge und deren primitive, unverstellte Dinghaftigkeit interessant. In den einfachen Dingen, die nur sie selbst sind, liegt eine Vertrautheit und Fremdheit zugleich, sodass sie, wenn man sie mit frischen Augen betrachtet, eine eigentümliche Schönheit gewinnen: die Dinge wieder einfach machen, sie in ihrer Dinghaftigkeit zeigen, sodass sie vertraut und staunenswert in eins werden.
Mit einem Perspektivenwechsel dieser Art machte Marcel Duchamp zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus einfachen vorgefundenen Gegenständen künstlerische Objekte, Objets trouvés. Im Fußball gibt es eine Haltung zur Welt, die eine Alternative zu jener der Philosophie ist. Philosophisch ist das Staunen darüber, dass es die Welt gibt. Staunen ist ein Anfang der Reflexion, die sich in einem Fragen fortsetzt, in einer theoretischen Haltung. Im Fußballspiel ist es die Freude, dass es die Welt gibt, ein Vergnügen am Spielen mit einem Ding, das man in alle Richtungen bewegen kann. Mit den Füßen wird die Freude an der Dinghaftigkeit des Balls ausgelebt. Wenn wir ihn hingegen in die Hände nähmen und betasteten, würden wir sogleich unterscheiden, klassifizieren und artikulieren.
Die Hände sind unser Organ der Differenzierung. Dies beginnt schon damit, dass wir eine rechte und eine linke Hand haben, die zwar gleich aussehen, aber unterschiedliche kulturelle Bedeutungen haben. Zwar gibt es diesen Unterschied auch bei den Füßen, aber er spielt bei deren Haupttätigkeit, dem Gehen, Laufen und Stehen keine Rolle. Beide Füße dienen in gleicher Weise der aufrechten Haltung des Menschen; zwischen ihnen herrscht prinzipielle Gleichheit; ihre unterschiedlichen Fähigkeiten spielen außerhalb des Sports nicht die geringste Rolle.
Von den Händen wird die in allen Kulturen vorkommende Opposition von links und rechts erzeugt und mit entgegengesetzten Werten markiert: Die rechte Hand ist die geschickte, gute, die linke Hand ist ungeschickt und steht für das Schlechte und Schmutzige. Eine solche Spaltung der Welt mit ihrer moralischen Aufladung gibt es bei den Füßen nicht. Im Gegenteil gilt Linksfüßigkeit als eine begehrte Fähigkeit. Fußball bleibt unterhalb der kulturellen Symbolik und moralischen Wertung; daraus zieht er einen beträchtlichen Lustgewinn. Seine Praxis ist fest in der niederen Kultur des Vor-Symbolischen, Vor-Theoretischen und Vor-Moralischen verankert.
Lange Zeit galt die Protesthaltung des Fußballs gegen die Schriftkultur als primitiv. Man muss aber sehen, was die Spieler, wenn sie dreckverschmiert vom Platz laufen, in ihrer Sprachlosigkeit leisten, wie sie mit den Dingen umgehen. Die Vertreter der Hochkultur haben sich nicht getäuscht, als sie voller Hohn auf die Rohlinge in ihren verschwitzten Trikots hinwiesen. Aber die Handlungen im Fußball sind keine Annäherung an das Kriechen und Grasfressen der Tiere, sondern ein Streben jenseits von Gut und Böse hin zu einer Erfahrung, die nicht lügt. Auch im System des Sports ist der Fußball außergewöhnlich in seiner Hingabe an die Dinge, seiner Bereitschaft, sich dem Spielball auszuliefern, auf ihn einzugehen und ihn hinzunehmen. Alle anderen Ballspiele machen die Spieler stark, rüsten sie mit Schlägern aus oder gestatten den Handeinsatz. Der Fußball will den Spieler primitiv machen; er schwächt ihn gegenüber dem Ball, der im Gegenzug durch seine perfekte Kugelgestalt und Prallheit aufgewertet wird. Mehr als in jedem anderen Spiel wird er im Fußball in die Rolle des Mitspielers gebracht: Man spielt mit dem Ball, und der Ball spielt mit allen.
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Gunter Gebauer
Gunter Gebauer lehrte seit 1978 als Professor an der Freien Universität. Nach einem Studium der Philosophie, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Linguistik und Sport promovierte er 1969 an der Technischen Universität Berlin; 1975 habilitierte er sich für das Fach Philosophie an der Technischen Universität Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte: Historische Anthropologie, Sozialphilosophie, Sprachtheorie und Theorie des Sports. Sein Buch Poetik des Fußballs „gehört zum Besten, was zum Thema Fußball erschien“, wie es die Berliner Morgenpost rezensierte. Gunter Gebauer ist unter anderem Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur.
Sein Tipp für wie WM: „Weltmeister wird Brasilien.“
Kontakt
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Institut für Philosophie
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