Prof. Dr. Ulrich Gebhard, Universität Heidelberg
In seiner Keynote stellte Prof. Dr. Ulrich Gebhard, Didaktik der Naturwissenschaften von der Universität Heidelberg die provokante Frage Wie viel Natur braucht der Mensch? Gutes Leben habe Konjunktur, erklärte er. Auch unser Naturverhältnisse habe viel mit gutem Leben zu tun. Landschaft und Natur, „gute Orte“ seien zentral dafür. Für über 90 Prozent der Deutschen gehöre Natur zu einem guten Leben dazu. Die Tendenz sei steigend, 94 Prozent der Deutschen sagten: “Natur macht mich glücklich”, nur 12 Prozent sei Natur egal. Mittlerweile schätzten 74 Prozent der Befragten wilde Natur. Die Vorliebe für „wilde Natur“ nähme mit dem Bildungsstand zu, erklärt Gebhard. Natur sei ein Erlebnisort, aber auch Sinninstanz: Ein Symbol für gutes Leben, Gerechtigkeit, Ruhe, Fröhlichkeit, etc. Durch solche „Sinninstanzen“ werde das Leben als sinnvoll interpretiert.
Prof. Ulrich Gebhard beleuchtete ihn seinem Vortrag die vier Grundgedanken:
- Natur als Erfahrungsnorm
- Natur & Gesundheit
- Zusammenhang zwischen Naturerfahrung, Umwelt und Naturbewusstsein
- Natur als Sinninstanz
Natur als Erfahrungsnorm
Die ökologischen Krisen zeigten, dass der Mensch Teil der Natur sei (“Erst stirbt der Wald, dann der Mensch”), unterstrich Gebhard. Alexander Mitscherlich habe herausgefunden, dass eine Entfremdung von Natur besonders bei Kindern negative soziale und psychologische Folgen habe. Der Mensch brauche “Tiere, Dreck, Spielraum”. Das sei nicht nur eine theoretische, sondern auch eine wichtige praktische Frage z. B. in den Bereichen Architektur, Umweltbildung, Stadtplanung, führte Prof. Dr. Gebhard aus. Schon Alexander von Humboldt sagte: „Natur muss so erforscht werden, wie sie sich im Inneren des Menschen abspielt.“ Es sei also eine zentrale Frage: Welche Bedeutung hat Natur im Inneren der Menschen? Natur vermittele Verlässlichkeit und Sicherheit, die Dauerhaftigkeit der Natur vermittele Kontinuität im Leben. Sie befriedige die zwei widersprüchlichen Grundbedürfnisse Sicherheit und Neugierde. Gebhard zitierte auch Friedrich Nietzsche: “Wir sind so gerne in der Natur, weil sie keine Meinung über uns hat”. Dabei sei relative Freizügigkeit notwendig, um sich die Natur wirklich anzueignen: Träume, Phantasien, Freiraum machten Natur attraktiv. Gebhard erklärte, dass positive Naturerfahrungen in der Kindheit prägend und eine lebenslange Ressource für Wohlbefinden und Gesundheit seien. Sie förderten außerdem eine positive Einstellung zur Natur.
Städtische Naturerfahrungsräume (wilde, weitläufige Flächen ohne pädagogische Betreuung) seien nachgewiesenermaßen eine Antwort auf Probleme der heutigen Zeit: Veräußerlichung, Verinselung und Terminstress. Dies sei ein radikales, umstrittenes Konzept (u. a. wegen der Planung oder der Betreuungsfrage), das aber auch viele Vorteile biete: Vertrautheit, Heimatbildung, Lieblingsorte, Gemeinschaftsgefühl. Prof. Dr. Gebhard ergänzte aus der Praxis seiner Projekte und stellte ein Projekt mit “bildungsbenachteiligten” Jugendlichen in Hamburg vor. Es zeigte, dass Menschen mit sozioökonomischer Benachteiligung Naturerfahrungen oft nicht machten, selbst wenn diese zugänglich wären. Jedoch seien Jugendliche nicht so naturfern, wie häufig angenommen. Es zählten die vier Prinzipien Spaß, Verzicht auf Moralisierung, Reflexion, Partizipation. Während eines Projekts in Bielefeld machten Jugendliche 6h/Woche freie Naturerfahrungen. Dies hätte wesentliche Auswirkungen auf fachliche Lernprozesse, Wohlbefinden etc., so Gebhard.
Natur & Gesundheit
Naturerfahrungen wirkten präventiv gegen Krankheiten: Gartentherapie, Tiertherapie, therapeutische Freiräume. Gesundheitliche Argumente würden immer wichtiger bei politischen und stadtplanerischen Entscheidungen, so Gebhard. Er verwies auf die Psychoevolutionäre Theorie nach Ulrich: Menschen seien in der Savanne sozialisiert worden. Diese biete sowohl Rückzugsräume als auch Ferne: Zwei Elemente, die unsere Naturreferenzen prägten (sicherheitsinduzierend, Exploration). Natur helfe uns, unsere Konzentrationsfähigkeit wiederherzustellen. Studien zu Stress, kognitiver Entwicklung, aber auch zu Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, etc. zeigten, dass bereits zehn Minuten Waldspaziergang für Verbesserungen sorgen könnten.
Die Natur hätte auch eine Funktion als Stimmungsaufheller: In der Natur hätten Menschen bessere Laune, Ärger und Stress würden abgebaut, das Selbstwertgefühl gesteigert ebenso wie die Resilienz. Dies belegten zahlreiche Studien, informiert Gebhard. Naturerfahrungsräume seien soziale Knotenpunkte (soziale Gesundheit). Es sei wichtig, dass der Zugang zur Natur fußläufig erreichbar sein müsse: Dies zeigten u. a. die Auswertung von 4.000 Krankenakten im Rahmen einer belgischen Studie. Naturerfahrungen seien ein entscheidender und wichtiger Resilienzfaktor.
Zusammenhang von Naturerfahrung und Umweltbewusstsein
Prof. Dr. Gebhard nahm Bezug zur Agenda 21/Rio: Bildung sei wichtig für die Schaffung von Werten und Auffassungen, welche für die nachhaltige Entwicklung entscheidend seien. Dabei wies er explizit darauf hin, dass Bildung zwar wichtig sei, jedoch sei ihre Rolle auch beschränkt. Die Änderung politischer Strukturen sei ebenfalls wichtig. Er erklärte, dass die Krise der Welt auch eine Lernkrise sei.
Naturerfahrung und Umweltbewusstsein hingen positiv zusammen, ergänzte er und zitierte Immanuel Kant: Durch Naturerfahrung werden wir zu (moralisch) besseren Menschen: Die Naturerfahrung hänge mit einer “guten Seele” zusammen. Menschen seien “gut” nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern auch gegenüber der Natur. Studien belegten die Korrelation zwischen positiven Naturerfahrungen (insbesondere im Kindheitsalter) und umweltfreundlichen Einstellungen. Der Zusammenhang bei pädagogisch initiierten Maßnahmen sei nicht so eindeutig. Eine erlebnisorientierte und intuitive Herangehensweise sei hier wichtiger als eine rationalistische, betonte Gebhard. Moderne Studien zeigten, dass eine moralische Intuition erst im Nachhinein rationalistisch begründet werde. Affektive und intuitive Erlebnisse seien für ein späteres Urteil wichtig.
Natur als Sinninstanz
Die Erfahrung der Natur sei eine Bedingung zum guten Leben, d. h. einem sinnvollen Leben (= Lebensqualität), führte Prof. Dr. Gebhard weiter aus. Naturerfahrung sei eine Ressource für gesundes und glückliches Leben. Sie sei ein wirksamer Faktor im Spannungsfeld Gesundheit-Krankheit. Er ging auch auf die Symbolebene der Natur, z. B. für die Deutung der Welt, ein. Die Natur ermögliche, ein Verhältnis zu sich selbst aufzubauen. Sie biete Anlässe, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Damit seien Naturerfahrungen auch Selbsterfahrungen. Er zitierte Caspar David Friedrich: Natur ist eine “Membran subjektiver Erfahrung und Leidens”, wies aber explizit darauf hin, dass die Natur nicht nur positiv, sondern auch negativ konnotiert sei (z. B. in Märchen. („Wasser kann uns tragen, wir können aber auch darin untergehen.“). Ambivalenzen machten die Natur anziehend, widersprüchliche Zustände könnten zu Anker werden.
Gebhard ging außerdem auf die Idee der Salutogenese ein: Gesundheit werde selbst erzeugt (Viktor von Weizsäcker). Hierbei könnten Naturerfahrungen unterstützen. Die Natur sei (noch) relativ unerschöpflich und bleibe daher (noch) Symbol eines guten Lebens.